Häuser besetzen, Strassen bestickern

Cecil Gisler, Juli 2021

Squats und Sticker haben mich seit jeher begleitet. Ich wurde in eine Zeit geboren, in welcher die Hippies die Hoffnung schon aufgegeben hatten und die Punks erst gerade richtig wütend wurden. Gross geworden bin ich in einer Ostschweiz, in welcher dennoch Platz für die Utopien beider Anliegen vorhanden war. Wir haben Häuser besetzt und meine Mutter hat mich mitgenommen. Mit dabei seit jeher Kleber.

Für mich liegt der wesentliche Unterschied zwischen Spraying und Stickern in der Modalität der Produktion. Selbstverständlich wären da mehr Differenzierungen möglich; Generell verstehe ich Spraying als selbstbezogenen Akt, während Stickern für die eigene Gemeinschaft geltend gemacht wird. Sprayen gewährt einem Individuum Zugang zu einer spezifischen Gemeinschaft, durch eine meritokratische Praxis des sich Behauptens. Stickern schafft Gemeinschaft, da der Akt des Klebens durch das Medium demokratisiert wird, demokratisierend wirkt. Einmal produziert, können Sticker mit wenig Aufwand an Personen und Wänden verteilt werden. Das haben wir mitunter auch neuen Produktionsmethoden zu verdanken.

Häuser besetzen ist nicht einfach nur randallierende Politik, sondern eine Realität. Für die meisten Squatter:innen ist Besetzen Leben und sie befinden sich dadruch im ständigen Kampf mit neoliberalen Machtverhältnissen. Dabei geht es nicht nur um den Lebens-Raum, sondern auch darum wo sich dieser Raum befindet. Städte sind bezüglich materieller und sozialer Ressourcen gesehen effizienter als weit verstreute Enklaven auf dem Land. Deshalb sind sie für ökonomische Prozesse besonders interessant, welche diese Ressourcen konzentrieren und anzapfen können. Das gilt für die Organisation von Squatter-Leben aber auch parasitäre Finanzstrukturen.

Nun ist es aber so, dass wir Raum nicht nur brauchen, sondern uns dieser auch formt. Das nennt sich ontologische Gestaltung. Wir gestalten die Welt und die Welt wiederum gestaltet uns. Was aber, wenn wir die Welt nicht gestalten dürfen, nicht mal gestalten könnten, und sie dennoch ihren Einfluss auf uns wirken lässt?

Squatten und Stickern finden sich hier wieder. Niemand squattet alleine, zumindest nicht freiwillig. Squatten und stickern sind also gemeinschaftliche Tätigkeiten die auch nur aus einer Gemeinschaftlichkeit heraus entstehen und existieren können. Beides findet innerhalb eines formativen und durch-kapitalisierten Raum statt; Unseren Städten. Diesen Orten an welchen wir maximal nur geduldet werden. Unser Lebensraum, welcher uns nie gehören kann.

Innerhalb dieser ausgesteckten Rahmung werden die beiden Praxen zu einer Reappropriation unserer eigenen Werdung. Da uns unser Lebensraum nicht gehört, dieser uns denoch formt und wir über dieser Formung mitbestimmen möchten, müssen wir uns den physischen, mentalen und emotionalen Raum mit ein wenig Gewalt wieder einverleiben. Gewalt heisst hier vor allem gegen die Besitzverhältnisse agierend.

Ich klebe, also sind wir.

Natürlich gibt es auch Differenzen zwischen squatten und stickern, zum Beispiel bezüglich der Anonymität, aber auf diese möchte ich an diesem Punkt nicht eingehen. Das gemeinsame Besetzen von öffentlichem Raum im Sinne einer Seinswerdung steht für mich im Vordergrund. Zumindest hat sich das in dieser Form in meinem Erleben niedergeschlagen. Sticker waren für mich wie Mycelium, dem Wurzelgeflecht von Pilzen, das die Stadt unterirdisch durchwachsen hat. Squats wären in diesem Gleichnis dann des Pilzes Früchte, welche aus dem Boden schiessen. Sozusagen die physisch erfahrbaren Aspekte der Besetzung.

Wenn squatten also das physische Besetzen der Stadt ist, dann kümmern sich die Sticker:innen um unser geistiges und emotionales Wohl. Sticker werden dann zu viel mehr als blossen Informationsträgern. Sie teilen uns mit, dass wir nicht alleine sind, auch wenn die Gemeinschaft nicht immer sichtbar ist. An manchen Orten ballen sich die Sticker auch, werden von Einzelkleber zu einer Klebermasse dessen Egregore uns willkommen heisst und uns sagt: Hier sind wir sicher, hier können wir uns selbst sein. Herz und Geist können ruhen.

In diesem Sinne, lasst uns unseren Lebensraum besetzen, mit Squats und Sticker.

Aufnahme der Author:in bei der Hecht Besetzung, Weihnachten 1988, als sechsjähriges Kind

Aufnahme der Author:in bei der Hecht Besetzung, Weihnachten 1988, als sechsjähriges Kind

Sticker der die Aktion um die Hecht-Besetzung begleitete

Sticker der die Aktion um die Hecht-Besetzung begleitete