Posthumanismus - Rezension
Rezension von: Braidotti, Rosi (2014): Posthumanismus: Leben jenseits des Menschen. Frankfurt am Main: Campus [im Worldcat]
Was kommt nach dem Menschen?
Posthumanismus ist ein furchteinflössendes Buch. Nicht nur wegen seines Inhaltes, der an manchem Weltbild nagen mag. Nein, auch der Umfang des Projektes, das Rosi Braidotti hier anpackt, ist monströs. Schliesslich stösst sie nicht nur den Menschen vom seinem anthropozentrischen Thron, sondern zeigt auch gleich noch einen Weg aus der daraus entstehenden Misere auf.
Dem Posthumanismus Braidottis lässt sich von verschiedenen Seiten her nähern. Einerseits ist er eng mit dem Transhumanismus verknüpft und beschert uns dorther techno-erotische Fantasien der Verschmelzung von Mensch und Maschine: Wie wäre es, könnten wir den Geist ins Internet ‘uploaden’? Wie wäre es, würden unsere Prothesen nicht nur Fehlendes ersetzen, sondern als ‚Hyper-thesen‘ die Grenzen des menschlich Machbaren sprengen? Andererseits artikuliert Braidottis Posthumanismus eine kritische Auseinandersetzung mit dem, was nach dem Humanismus, nach dem Menschen kommt. Zwischen diesen Polen ist der vorliegende Text einzureihen.
Eine frühe Version des Down- und Uploads von Geist. Szene aus Star Trek (1966)
Eine inhaltliche Analyse von Posthumanismus übersteigt diese Rezension. So viel sei aber verraten: Es werden Antworten geboten. Hier allerdings werde ich insbesondere auf den Rahmen eingehen, den sich Braidotti zur Bearbeitung des Themas geschaffen hat. Das Buch ist in vier grosse Kapitel unterteilt, die sich jeweils einer essentiellen Frage stellen.
-
Was ist Posthumanismus?
-
Wo ist des Menschen Platz in der posthumanen Kondition?
-
Wie erzeugt der Posthumanismus seine eigene Unmenschlichkeit?
-
Wie beeinflusst der Posthumanismus die Geisteswissenschaften?
Einem interessiertem und belesenen Laien sind die beiden ersten Kapitel zugänglich und zuträglich. Das erste Kapitel beinhaltet unter anderem eine ausführliche Geschichte der Geisteswissenschaften aus Sicht einer hadernden Anti-Humanistin. Das zweite Kapitel stellt das Argumentationsgerüst Braidottis vor. Das dritte Kapitel ist vor allem für Ethikerinnen und Ethiker relevant. Für die distanziert analytischen Geister liefert das vierte und letzte Kapitel Gesprächsstoff.
Das Rhizom: eine wichtige Denkfigur von Gilles Deleuze und Félix Guattari
Grundsätzlich lässt sich sagen, wer französisches Räsonnieren à la Deleuze-Guattari mag, ist bei der Lektüre des Buches gut aufgehoben. Wer nicht, legt das Buch schon bald beiseite. Braidotti wirft mit Begriffen nur so um sich, die sie nach Belieben mit Bedeutung füllt. Ein kleine Liste solcher Begriffe, die mich als Rezensenten beeindruckt haben: infrahuman, subhuman ontological, micro-fascisms, diasporic mobility, ‘earth’ others, necro-political, zoo-proletariat, non-androcentric, deep ecology, biomediated, generative ‘wetware’. (Da das Buch in der deutschen Übersetzung noch voraussetzungsreicher ist, habe ich das Buch vorwiegend in der englischen Version zur Kenntnis genommen.)
Von all diesen Begriffen sind drei essentiell für die Argumentation.
Zoe, Matter-Realism, Nomadic Subjectivity
Zoe ist in diesem illustren Reigen vermutlich der für die Argumentation wichtigste Begriff. Das Wort “Zoe” ist altgriechisch (ζωή) und bedeutet Leben in einem vegetativen Sinne. Es steht damit in Opposition zu Bios, dem kultivierten Leben. Zoe ist nach Braidotti nicht ein Modus des Seins, sondern vielmehr die dynamische, selbstorganisierende Struktur des Lebens. Zoe ist die Kapazität und Tendenz lebender Materie, sich mit anderen lebenden Systemen zu neuen Assemblagen zu verbinden. Braidotti sieht diese Relationalität nicht auf unsere Spezies beschränkt. Sie beinhaltet alle nicht-anthropozentrischen Elemente.
Ding-Realismus (matter-realism) bezeichnet Braidottis eigenen radikal feministischen Neo-Materialismus, der von Spinozas Monismus inspiriert ist, um die Vorstellung von Zoe erweitert, letztlich in Richtung Vitalismus und Animismus entwickelt wird. Einfacher ausgedrückt: Unter dem Blickwinkel des Ding-Realismus ist alle Materie eins und darf durch ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation als intelligent bezeichnet werden.
Unter dem Blickwinkel des Ding-Realismus ist alle Materie eins und darf durch ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation als intelligent bezeichnet werden.
Ding-Realismus und Zoe stehen wiederum in Verbindung mit dem Konzept der nomadischen Subjektivität. Dieses hat Braidotti schon früher entwickelt, aber sie wendet es erst hier voll umfänglich an. “Nomadische Subjektivität” bedeutet nicht-einheitliche Subjektivität, die doch an ethische Verantwortung gekoppelt erscheint, indem sie die wichtige Rolle von Relationalität betont.
Das nomadische Subjekt ist also Objekt der Analyse und Lösung zugleich. Der kritische Posthumanismus beschäftigt sich damit, was nach dem Humanismus kommt. Einerseits wird dabei der Mensch als Konzept aufgelöst. Anderseits stehen wir nun vor dem moralischen Problem: “Wenn es nicht um uns geht, was soll’s uns dann noch angehen?”. Durch die Denkfigur des nomadischen Subjekts zeigt Braidotti auf, dass wir Menschen grundsätzlich keine Unabhängigkeit von der Welt geniessen, in die wir eingebettet sind. Wir sind in verschiedenen Konfigurationen Subjekte — zusammen mit unserer Technologie, zusammen mit unserem Planeten, zusammen mit anderen Lebewesen. In diesem Pantheon der Subjekte müssen wir nun einen verantwortungstragenden und -bewussten Platz einnehmen. Verantwortung übernehmen in Zeiten des Posthumanismus heisst, der Materie sowie der dem Leben innewohnenden Intelligenz und Fähigkeit zur Selbstorganisation Entfaltungsraum zu verschaffen.
Was bleibt nach der Lektüre? Das Buch als Ganzes lässt sich kaum angemessen verdauuen. Jedoch ist sein Aufbau solide, nachvollziehbar und dicht an Verweisen. Es richtet sich mit Inhalt und Schreibe an die Theoretiker in den Geisteswissenschaften. Dennoch bleibt auch für die interessierten Laien genug zugängliches Material übrig, sollten sie sich damit abfinden, nicht alles zu verstehen. Von einer populärwissenschaftlichen Abhandlung des Posthumanismus ist das Buch allerdings meilenweit entfernt.
Zu guter Letzt möchte ich Braidotti selbst das Wort erteilen:
“The posthuman nomadic subject is materialist and vitalist, embodied and embedded — it is firmly located somewhere, according to the radical immanence of the ‘politics of location’ that I have stressed throughout this book. It is a multi-faceted and relational subject, conceptualized within a monistic ontology, through the lenses of Spinoza, Deleuze and Guattari, plus feminist and post-colonial theories. It is a subject actualized by the relational vitality and elemental complexity that mark posthuman thought itself.”
Adrian Demleitner ist Programmierer und Intellektueller. Er organisiert das Hackerfestival ckster, schreibt Programmcode u.a für gemeinnützige Organisationen und liest auch noch die kompliziertesten Bücher mit Genuss. Neben dieser Rezension (und vielen anderen Dingen) hat Adrian für die Avenue Grandioses geleistet: Dank ihm können wir nun *im* und nicht nach dem Text Sätze kommentieren und kritisieren.
Originally published at archiv.avenue.jetzt on October 13, 2015.